Für vier Wochen haben ein paar Aussteiger und ich in einem Camp Thaiboxen trainiert. Ein eiskalter Winter hatte mich aus Berlin vertrieben, zudem war meine Masterarbeit abgetippt, der Nebenjob als Bühnenbauer gekündigt und ich des Partylebens überdrüssig geworden. Es war Zeit für einen Neuanfang, den ich mit Extremsport besiegeln wollte. Und zwar in Nordthailand.
„Muay Thai“ gewinnt über die Grenzen Thailands hinaus an Popularität. Sportler und Backpacker aus aller Welt fahren in das Land, um in sogenannten Camps dort mehrmals am Tag den alten Sport zu praktizieren. Doch warum tun sie das? Vom Training in einem abgeschotteten Camp Nordthailands.
„Siehst du die Narbe? Da hat der andere mich damals ausgeknockt, mit dem Ellbogen!“, erzählt mein Kumpel und zeigt mir eine furchenartige Wunde nahe seines Auges. Stolz liegt in seinem Blick, aber auch Bedauern. Vielleicht war der Knockout nicht verkehrt, denke ich. Als Tourguide scheint Chris gutes Geld gemacht zu haben, während er als mittelmäßig erfolgreicher Thaiboxer keine großen Aufstiege mehr zu erwarten gehabt hätte. Kurz scheint die Spanne des Erfolges, der Weg zu ihm, wie auch die Abkehr von ihm sind Sprünge in ein unberechenbares Dunkel. Schon als Kinder müssen viele Thailänder mit dem Training beginnen, sonst schaffen sie es nie, auf nationaler Ebene Kämpfe auszufechten. Nach den ersten Niederlagen sollte schnell gehandelt werden. Wenn der Ruf noch nicht allzu beschädigt ist, können die Altmeister des Sports sich als Trainer versuchen und mit ihren früheren Erfolgen punkten.
„Lass ́ uns zur Fight Night gehen, du zahlst, ich krieg ́ die Karten reduziert. Danach gehen wir zur Massage“, sagt er und zwinkert mir zu. Doch ich kann ihn überreden, es heute beim Schnaps zu belassen. In der „Soldatenbar“ Chiang Mais, einem angenehm abgebrannten Hort für Veteranen von Krieg und Muay Thai, haben wir uns fürstlich die Kante gegeben. Wir könnten noch weiterziehen, doch ich will am nächsten Tag früh aufbrechen und in Pai das probieren, wovon mir Chris mit einem Glitzern in den Augen zu berichten weiß. Nämlich Thaiboxen.
Das Gym befindet sich im dörflichen Vorort der Stadt Pai. Und der Weg dorthin gestaltet etwas eigenartig. Keine Taxen befahren Pai zur Morgenstunde. Ich bitte einen Elektrofachhändler, mich dorthin zu bringen. Mit meiner riesigen Tasche und mir rast der junge Kerl auf seinem klapprigen Mofa zehn Kilometer nördlich, kennt den Weg und seine Beschaffenheit ebensowenig wie ich. Vor zwei gelangweilten Kühen und einer schlammigen Weggabelung macht er Halt. „Kannst du von hier aus laufen?“, fragt er. Ich nicke und gebe ihm um die zehn Euro, was in Deutschland für diesen Dienst gerade noch so annehmbar, hier aber ein unfassbares Geschenk darzustellen scheint. Wir sind beide peinlich berührt, aber glücklich. Mein Weg verläuft an Kuhstellplätzen, brennenden Büschen und grässlich bellenden Hunden, die eher misanthropischen Wölfen ähneln, vorbei.
Wellblech, Hühner und gemeine Sprüche
Dann sehe ich einen Wellblechverschlag, unter dem Puzzlematten zusammengesteckt, Boxsäcke aufgehängt und ein Ring eingerichtet wurden. Hühner rennen mit ihren Küken um das Gelände und suchen es nach Körnern ab, ein kleiner Hund versucht vergeblich, das Revier gegen seine Wolfsnachbarn zu verteidigen. Eine Katze mauzt mich an, ich solle sie von einer Palme befreien, auf der sie sich verirrt hat. Mitten im Geschehen angekommen, tue ich wie geheißen, doch die Trainerin faucht mich zur Begrüßung an: „Nicht helfen!“
Die Katze muss es selbst lernen, und die Trainierenden, wie ich schnell feststelle, auch.
Man hört den Betrieb schon von Weitem. Seilsprünge, Schläge auf den Boxsack, Ächzen, manchmal auch Schreie der Kämpfer. Es riecht nach Schweiß und Tigerbalm, einem
mentholhaltigen Muskelbalsam. Bei schlechter Wetterlage aber auch nach Kuhmist. Es ist heiß, die Luft trieft vor Schweiß und Feinstaub. Ich muss nur eine andere Hose anziehen, um direkt mitmachen zu dürfen.
„Schau an, ein fliegendes Schwein“, sagt der Trainer eine Stunde später verächtlich im Vorbeigehen. Collin blickt mir entsetzt ins Gesicht, er musste zuvor einen Ellenbogenhieb im Sprung üben.
„M ist so ein Bastard“, flüstert er und muss dann sofort lachen. M ist Italiener und seit 20 Jahren als Kämpfer, nunmehr als Trainer hier. Seine Frau Mam, Thailänderin und ebenfalls Kämpferin, leitet mit ihm das Thaibox Camp Sitjemam in Pai. Hart aber herzlich. Es kommen immer neue Gäste und alle werden aufgenommen, als seien sie Teil dieser Thaiboxfamilie. Ein Vorteil Thailands sind weniger die niedrigen Preise, denn die erstarken mit der stabilen Währung zunehmend. Es sind die Konditionen. Eine fünzehn-, bis fünfundzwanzigköpfige Mannschaft wird von fünf wachsamen Trainern angeleitet, mal mit Humor, mal mit bitterböser Kritik.
Vier Stunden am Tag, sechs Tage die Woche
Von diversen Reiseblogs zum besten Muay Thai Camp Thailands gekürt, erfüllt Sitjemam nicht unbedingt die Erwartungen, die man an eine solche Kaderschmiede haben könnte. Keine modernen Trainingsgeräte, umfassenden Ernährungspläne, Yoga oder Philosophie als Beilage. Nur knallhartes Training in einem Verschlag. Vier Zeitstunden am Tag, sechs Tage die Woche. Es beginnt mit Seilspringen, Dehnungen und Schattenboxen. Dann kommt die Technik, die autodidaktisch von Zweierteams erprobt wird. Ist das geschafft, müssen immer drei Personen in den Ring zur Padwork, bei der die Trainer Schläge und Tritte auf die Gummischilde in ihren Händen fordern. Drei Mal drei Minuten dauert der Drill, das sind normale Kampfbedingungen und strengen entsprechend an. Derweil üben die anderen unterschiedliche Tritte an den Sandsäcken. „Hast du hundert Pushkicks gemacht? Dann mach ́ jetzt hundert Sidekicks, aber diesmal richtig. Natürlich hundert pro Seite!“, meckert Mam und verfällt in Gelächter.
Dann machen wir gemeinschaftliches Bauchtraining, mit mehreren hundert Situps und verwandten Übungen sind wir vollends bedient. Nach zwei Stunden geht es in die Unterkunft, um dort bis zum Training am Nachmittag auszuruhen. Drei mal in der Woche wird das Training um Sparring erweitert, also lockeren Kampf mit zwölf Runden á drei Minuten. Hier werden Blessuren ausgeteilt, manche haben Angst, andere schmeissen hier hin, weil sie anfangs kaum Erfolge erzielen. Das Sparring gilt als Bewährungsprobe.
Nach den Trainingseinheiten ist mit mir nichts mehr anzufangen. Ich fahre langsam mit meinem Scooter durch das süße Städtchen Pai, esse großartige Hausmannskost der Thailänder und trinke viel Kaffee. Und langsam erinnere ich mich wieder an das, was mir vor dem Studium und neben den unzähligen Parties in Deutschland wirklich wichtig gewesen ist. Es war, neben dem Boxsport, das Schreiben. Also, dachte ich, sollte ich jetzt nicht anfangen, das Hobby auch zu meinem Beruf zu machen? Die Idee schien mir fruchtbar. Und tatsächlich schrieb ich fortan jeden Tag. Zwei Stunden Training am Morgen, dann vier Stunden Arbeit, und dann am Nachmittag noch einmal zwei Stunden Training. Ich erlebte das erste Mal seit Jahren etwas, das mir weder Studium noch Nebenjobs geben konnten: Ich war endlich wieder richtig ausgeglichen. Von Werbeartikeln zu Mikrowellen arbeitete ich mich zu spannenderen und komplexen Aufträgen hoch, die ich problemlos im Internet akquirieren konnte.
„Hier mache ich Sport und trinke nicht. Stell ́ dir mal vor, ich wäre zu Hause geblieben. Das wäre verfickt dramatisch!“
Collin und ich sind eher Sporttouristen, die ihren Körper neu formen, eine Zwischenzeit überbrücken oder einfach mal professionell lernen wollen, sich zu prügeln. Das ist bei den meisten Besuchern hier der Fall. Viele kommen für eine Woche, haben sich noch nie geschlagen oder gar noch nie einen Sport ausprobiert. Nun bekommen sie beides.
In so einem Trainingsumfeld wird einem die eigene Körperlichkeit, mit all ihren Grenzen, vor Augen geführt. Viele haben Probleme beim Laufen, der ganze Rücken schmerzt, Schlaf ist erst ab der elften Stunde erholsam. Doch auf einmal spürt man Muskeln am Bauch, robuste Leisten, starke Arme und die Schnelligkeit seiner Beine. Schon dafür ist der Aufenthalt in so einem Camp, in dem einen der Alltag kaum mehr einholen kann, sinnvoll. Auch wenn man nur einen Bruchteil der angebotenen Stunden schafft, ist man immer noch weit über dem europäischen Level. Wie oft geht man schon sechs mal in der Woche trainieren? Und dann auch noch zweimal am Tag?
Für einige ist es wiederum eine Entgiftungskur. Alkohol, Einsamkeit oder Misserfolge werden hier einfach mal beiseite geschoben. Kaum einer nimmt Drogen, trinkt oder verzweifelt an sich selbst.
Jeder Trainingserfolg ist ein kleiner Grund zum Feiern, jedes Gespräch mit den Trainingskollegen eine Bereicherung. Ein leicht übergewichtiger Kerl mit wachem Blick erzählt mit strahlend, hier trinke er nicht, treibe Sport und habe einen festen Rhythmus. Das wolle er nicht aufgeben, da bleibe er vorsichtshalber lieber hier, als wieder in die Heimat zu fahren.
Es sind kaum Abiturienten hier, solche, die Ozeanien nach dem Abitur bereisen und sich dort das erste Mal in Autarkie üben wollen. Hier sind Erwachsene, eine Altersspanne von 20-50 Jahren wird abgedeckt, und alle haben diesen Ausstieg über kurz oder lang gebraucht.
Die Testikel am Kinn, das Herz in der Brust
Andere wiederum sind ausgestiegen und möchten sich hier als Kämpfer etablieren. Miriam, 38, aus Italien, ist eine von ihnen. Die drahtige Frau mit liebem Blick prügelt sich im Live-TV mit Thailänderinnen, die fast schon ihre Töchter sein könnten. Sie hat eine herausragende Physis, geschaffen durch Asketik und der Lust am Kampf. Doch ist sie keine Schlägerin, im Thaiboxen geht sie schlichtweg auf. Lächelnd umarmt sie ihre Kontrahentin nach ihrem jüngsten Kampf, drei Runden haben die beiden alles gegeben, doch die Sympathie füreinander zu keiner Sekunde infrage gestellt. Wir sitzen vor der großen Leinwand in der Bar und bejubeln die Amazone.
„Weisst du, vor meinem letzten Kampf, da waren meine Eier hier!“, erzählt mir Jesus mit ernstem Blick und fasst sich ans Kinn.
„An deinem Kinn?“
„Alter, ich hatte Angst! Guck ́ mal, ich bin Spanier. Ich wollte hier nur mal thaiboxen. Und plötzlich heisst es, ich soll gegen einen Thai kämpfen. Fuck!“
Jesus hat am Ende gewonnen. Der Extremsportler aus Madrid hat seinen Gegner ausgeknockt. Den Stolz zeigt er ohne Scheu. Im zweiten Kampf wurde er aber von einem Australier besiegt. Die Kämpfe scheinen hier unberechenbar, ob der vielen Faktoren auch ein Stück weit vom Glück abhängig. Er macht weiter und gilt als einer der vielversprechendsten Kämpfer im Camp.
Andere wollen ihm folgen. Patrick und Sascha sind gestresst, zusätzlich zu ihren zwei Trainingseinheiten müssen sie noch kilometerweit rennen, Nahkampf proben und sich beim Padtraining besonders viel Kritik und Gegenschläge einstecken. Auch sie wollten Abstand gewinnen und einen neuen Sport ausprobieren. Das war vor fünf Monaten. Seitdem haben sie Blut geleckt und bleiben auf unbestimmte Zeit hier.
„Relax, relax! Nicht vergessen!“
„Ritem!“
Ich schüttle verwirrt den Kopf.
„Ritem!“, schreit Joe und haut mir mit dem Pad auf den Kopf.
„Aber was ist das denn?“, frage ich.
„Er meint Rhythmus!“, ruft mir Mam zu.
Nun gut. Joe ist Wettkämpfer, wird hier kostenlos trainiert, betreut und auf die Kämpfe vorbereitet. Dafür muss er allerdings die ausländischen Aspiranten trainieren. Er hat einen außergewöhnlich klaren Blick für kleinste Bewegungen. Und mir als Boxer fehlt der Rhythmus, den es für das Thaiboxen braucht.
„Relax, relax!“, brüllt er mich an, was nach einiger Zeit tatsächlich hilft. Locker bleiben. Einen Ellbogen muss man irgendwann einfach mal einen Ellbogen bleiben lassen, auch wenn der wehtut. Doch kann ich mir die Angst vor ernsten Verletzungen nicht verkneifen, immerhin ist westliches Boxen im Vergleich zum Thaiboxen deutlich sicherer. Hier fehlen die dicken Handschuhe, dafür kommen Knie, Schienbeine, Ellbogen und unterschiedlichste Tritte auf Körper und Kopf hinzu. Am besten leistet man Widerstand, indem man sich die gesamte Zeit über entspannt, kommen lässt, was kommen will. Und dieser Weg zur Ruhe macht durchaus einen Reiz vom Thaiboxen aus. Es erklärt ein Stück weit, warum das so viele Europäer, Neuseeländer und Amerikaner auf sich nehmen.
„Du vergisst immer! Jetzt bist du gut. Morgen hast du wieder vergessen!“, sagt Joe und haut mir erneut auf den Kopf. Ich muss lachen.
„Ich gebe mir Mühe!“
„Vergiss einfach nicht, was ich gezeigt habe!“
Er hat Recht. Ich gebe mir redlich Mühe. Nach vier Wochen ist mir dieser Rhythmus endlich zueigen, und Joe ist zufrieden.
Der Weg zur inneren Stärke
Im Sparring breche ich Sascha die Nase. Und das kurz vor seinem Kampf.
„Tut mir leid, man!“
„Nein, das war gut. Mit Deckung wäre mir das nicht passiert. Ist meine Schuld.“ Ich weiß weder ein, noch aus.
„Wann ist dein Kampf?“, frage ich.
„In zwei Wochen. Wenn du magst, schicke ich dir den Link zur Übertragung. Aber ich will nicht, dass jeder das sieht. Stell ́ dir mal vor, ich gehe k.o., und alle meine Freunde sehen das live“, sagt er gequält.
Es ist dieser Modus konstanter Übersäuerung, Gereiztheit und grenzenlosen Pessimismus. Die Phase, die mit Betreten des Rings abebbt.
„Du wirst einen tollen Kampf liefern!“, muntere ich ihn auf.
Er merkt, dass es mir ehrlich ist, und lächelt.
„Wird schon. Aber erstmal kommt das Training“, sagt er und macht sich zum Joggen auf.
Mit dem Betreten des Rings, sagen viele der Kämpfer hier, ist alle Angst verflogen. Sieg oder Niederlage kommen dann einfach, der Kampf verläuft wie im Autopilot. Denn der eigentliche Kampf ist vorher gewonnen worden, in unzähligen Minuten des Ächzens, Blutens, Prügelns und Rennens, bei denen man sich über Grenzen hinweggesetzt hat, die vorher als unerreichbar galten. Ein Moment, indem man zu sich selbst und zu einer ungeahnten Kraft gefunden hat.
Nach einem Monat ausgiebigem Training, also 24 Stunden Klopperei pro Woche, wurde mir eines klar: Ich wollte schreiben. Egal wann, wo und wie, es war mir einfach nur ein Anliegen, dieses Hobby zum Beruf zu machen. Also schrieb ich. Kleine Werbeartikel als Copywriter wechselten sich mit größeren Auftragsarbeiten ab. Corona zog ein und hielt die gesamte Insel Ko Tao in Atem, auf der ich nun eigentlich entspannen wollte. Aber ich arbeitete fleißig, mit der Ausdauer meiner großartigen Trainer und der Hartnäckigkeit, wie man sie nur im Ring erlebt. Der Weg war unvorhergesehen. Aber ich bin überaus froh, in gegangen zu sein.
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